Die Regenbogenbrücke


Eine phantastische Geschichte
Die Regenbogenbrücke von Katia Wunderlin

Es war eine düstere Novembernacht und ich war allein zu Hause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah direkt in die Augen meiner verstorbenen Katze Bonita.
Wie ein wildgewordener Hammer fing mein Herz an zu schlagen und es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Alles in mir sträubte sich, etwas zu sehen, das über jede Logik und jede Vorstellung hinausging. Ich glaubte weder an ein Leben nach dem Tod, noch an die Möglichkeit, mit Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. Und trotzdem sass sie hier, auf meinem Bett, und starrte mich mit ihren riesengrossen, bernsteinfarbenen Augen an.
„Bonita?", flüsterte ich und streckte meine Hand nach
ihr. Blitzschnell sprang sie auf den Boden und verschwand lautlos durch die Katzenklappe. Woher ich den Mut nahm, ihr in den Garten zu folgen, weiss ich bis heute nicht. War es ihr eindringlicher Blick, meine Neugier oder der Drang, dem Unfassbaren ein fassbares Gesicht geben? Ich weiss es nicht. Doch die Hoffnung, das gerade Erlebte würde sich als Einbildung erweisen, zerplatzte wie eine Seifenblase, als ich sie draussen auf dem Steinbrunnen erneut sah, unverkennbar mit ihrem schwarzen Halsband und dem Anhänger aus Edelmetall, auf dem ihr Name und meine Telefonnummer standen. Vorsichtig machte ich einen Schritt auf sie zu. Sie sprang sofort auf den gepflasterten Weg und eilte mit hocherhobenem Schwanz in Richtung angrenzende Wiese. Es war klar, sie wollte, dass ich ihr folge. Und ich folgte ihr, ohne nachzudenken, mit Lennons kalter Schnauze an meiner Hand.

Genau in diesem Augenblick durchschnitt ein Geräusch, das sich wie ein Düsenjet im Tiefflug anhörte, die unheimliche Stille. Weisses Licht verschlang alles um mich herum. Ein schmerzhafter Krampf legte meinen Nacken und die Schultern lahm. Mit verkniffenen Augen und zusammengepressten Lippen versuchte ich den Krampf zu lösen, während aus der Luft feine Teilchen auf mein Gesicht prallten und es nach verbranntem Gummi roch. Ein gewaltiges Nachdonnern erschütterte die Umgebung und zog mir den Boden unten den Füssen weg. Unfähig zu denken oder mich zu bewegen, versuchte ich zu verstehen, was gerade geschehen war.
Nach einer Weile rappelte ich mich langsam in die Hocke. Lennon stand zitternd neben mir und schaute hypnotisiert, wie Feuerzungen, in allen Farbnuancen zwischen Gold und Purpur, in atemberaubendem Tempo nach dem wunderschönen Holzantlitz meines Hauses griffen. Aus der Nacht wurde Tag, meterhohe Flammen schossen aus den Fenstern, während sich der dunkelgraue Rauch bereits durch meine Lungen biss. Ein stechender Schmerz in meinem Rücken warf mich zu Boden, als ich versuchte aufzustehen. Alles um mich drehte sich, alle Geräusche verschmolzen zu einer einzigen blubbernden Welle, die in meinem Kopf sinnlos hin und her schlug.
Und dann sah ich sie wieder, ganz dicht vor meinen Augen. Bonita. Bedächtig und selbstzufrieden leckte sie ihre Pfoten, strich sich über den Kopf, bis hinter die Ohren, dabei blickte sie unentwegt zu mir, zog ab und zu ihre grosse Augen zu einem Schlitz zusammen, öffnete sie gleich wieder und schnurrte sogar.
„Bonita?“
Sie hielt inne, schaute mich an. „Das war aber knapp!“, sagte sie plötzlich. Ihr Maul bewegte sich nicht, doch ich empfing auf eine mir unerklärliche Weise ihre Gedanken. Die Situation war so grotesk, dass ich fürchtete, den Verstand verloren zu haben: Während mein Haus lichterloh brannte, sprach meine tote Katze zu mir. Ein drückender, unangenehmer Gedanke nistete sich plötzlich in meinem Gehirn ein.
"Bin ich etwa tot?", krächzte ich leise aus mir heraus.
"Dann wäre meine ganze Arbeit umsonst gewesen."
„Du bist gekommen, um mich zu retten?“, sagte ich, ohne Bonita direkt anzusehen.
Es war ein äusserst seltsames Gefühl, mit einem Wesen zu sprechen, dessen Gesicht wie versteinert war.
„Nicht nur deshalb.“
„Weshalb denn sonst?“ Der Sturm in meinem Gehirn hatte sich gelegt, ich versuchte mich wieder aufzusetzen.
„Komm mit, ich zeige es dir.“
Es wurde wieder ganz hell um uns herum. Bonita lief voraus, ich folgte ihr mühelos. Bald erreichten wir eine Brücke. In hohem Bogen erhob sie sich über den Nebel, sanft beleuchtet in den Farben des Regenbogens: Rot, Gelb, Orange, Grün, Blau, Violett.
„Die Regenbogenbrücke!“
„Du kennst sie?“, staunte Bonita.
„Natürlich kenne ich sie! Das Gedicht 'Die Regenbogenbrücke' erhielt ich jedes Mal von Freunden zugesandt, wenn eines meiner Tiere starb. Es spendete mir Trost, auch als du gegangen bist, Bonita. Trotzdem glaubte ich nie, dass diese Brücke wirklich existiert.“ Inzwischen waren wir in der Mitte der Brücke angelangt. Der Nebel hatte sich verzogen, liess freien Blick auf die andere Seite. Ich sah samtige Felder, weisse Naturwege und zauberhafte Blumen, soweit das Auge reichte. Dazwischen spiegelglatte Teiche, tief verborgen unter riesengrossen Trauerweiden, eingesäumt mit Schwertlilien und Schilf. So viel Schönheit verschlug mir fast den Atem und ich hatte nur noch einen Wunsch: Auf die andere Seite gehen und für immer dort bleiben.
„Siehst du sie schon?“, fragte Bonita und hielt an. „Wen?“
„Sieh genau hin!“

Gerne liess ich meinen Blick nochmals über die wunderschöne Landschaft streifen, schaute jeden Stein, jeden Baum genau an. Und dann sah ich sie, alle, zuerst nur unscharf, dann immer klarer, wie aus einem dreidimensionalen Bild entstehend: Auf einer natürlichen Steinplattform, ganz in der Nähe der Brücke, dösten eng umschlungen meine spurlos verschwundenen Kater Boy und Amadeus. Mein draufgängerischer Kater Marco, der die Welt mit gebrochenem Rücken verliess, sprang mit den Kaninchen Xenia und Laura um die Wette. Die Meerschweinchen Sämi, Boni, Tina und die einst gelähmte Stinki stampften fröhlich pfeifend im Gänsemarsch vom Gebüsch zu Gebüsch durch das saftige Grün. Und über allen, hoch in der Krone einer riesigen Eiche, thronte majestätisch meine geliebte Katze Mariza, die mich einen grossen Teil meines Lebens begleitet hatte.
Doch einer fehlte: Mein Hund Ringo. Er starb vor mehr als zwei Jahren, doch die Gedanken an ihn schmerzten immer noch fürchterlich und ich verbrachte unzählige trostlose Stunden an seinem Grab, unter der Heimbuche, in meinem Garten. Ringo war mein Freund, Kamerad, treuer Begleiter. Ringo war mein Leben.
Seit Ringo gestorben war, lebte ich nur noch ein halbes Leben. Die Lücke, die er hinterliess, konnte durch nichts gefüllt werden, durch Lennon, meinen neuen Hund, schon gar nicht. Obwohl Lennon ein guter Hund war, hatte er nie die leiseste Chance gehabt, in mein Herz einzutreten, wie sehr er sich auch bemühte.
„Wo ist Ringo?“
„Kannst du es dir nicht vorstellen?“, blinzelte Bonita zu mir auf.
„Nein“, log ich, bereute es aber gleich, als ich ihren allwissenden Blick sah. „Dreh dich mal um“, sagte sie zu mir.
Er stand einige Meter von uns entfernt. Ringo, mein geliebter Hund. Er wedelte begeistert mit dem Schwanz, sein Blick bewegte sich rasch zwischen mir und der anderen Seite der Brücke. Seine Muskeln waren gespannt, während er leise vor Aufregung winselte.
„Ringo!“
Hocherfreut wedelte er immer stärker, sein ganzer Körper wedelte schon mit, doch er kam keinen Schritt näher.
„Darf Ringo nicht auf die andere Seite?“, fragte ich, obwohl mir die Antwort schon klar war.
„Nein.“
„Wegen mir?“
„Ja. Solange du ihn nicht gehen lässt, muss er auf dieser Seite der Brücke bleiben, in deiner Nähe.“ „Warum hat er sich bei mir nie bemerkbar gemacht? So wie du.“
„Das geht nicht, solange er auf dieser Seite der Brücke ist.“
„Oh, Gott, was habe ich getan! Ringo, das wollte ich nicht, es tut mir so leid!“
Ringo strahlte mich mit seinem treuen Blick an, dem Blick, den ich so gut kannte.
„Lässt du ihn gehen?“
„Natürlich, Bonita, du kennst mich ja. Ich hätte nie bewusst etwas getan, was euch geschadet hätte!“
„Du musst es ihm selbst sagen.“
„Darf ich mich vorher von ihm verabschieden? Er starb so schnell, wir hatten nie die Gelegenheit dazu.“
„Sicher. Auf dieser Seite der Brücke kannst du ihn sogar anfassen.“
„Ringo, komm her!“, rief ich, und während sich meine Augen mit Tränen füllten, sprang er auf mich zu, stürmisch wie ein junger Hund. Ich presste mein Gesicht in sein weiches Fell, roch seinen so schmerzlich vermissten Geruch. Er leckte meine Tränen, so wie er es immer getan hatte, wenn ich traurig war, und ich lachte, wie ich es auch damals getan hatte.
„Du bist ein grossartiger Hund, Ringo! Geh nun zu deinen Freunden!“ Er sah mich mit seinen warmen, braunen Augen an, zögerte einen Moment. „Geh nur“, sagte ich, obwohl mein Herz blutete und ich ihn für immer festhalten wollte.
Ringo schaute mich zum letzten Mal an, ganz kurz glaubte ich, in seinen Augen einen Hauch von Trauer zu entdecken, dann schoss er wie eine Rakete über die Brücke. Auf der anderen Seite angelangt, stürzte er auf die nächste Wiese, raste, schlug Haken, machte Purzelbäume. Seine Begeisterung und die Tatsache, dass es die Regenbogenbrücke tatsächlich gibt, trösteten mich über meinen Schmerz hinweg. Wir werden uns wieder sehen, das wusste ich jetzt mit Bestimmtheit.

„Warum bist du nicht früher gekommen, Bonita?“
„Wir können mit unseren Liebsten nur dann direkten Kontakt aufnehmen, wenn sie in grosser Gefahr sind. Ansonsten können wir nur Signale senden.“
„Hast mir Signale gesendet?“
„Fast jeden Tag, doch du warst nie auf Empfang.“
„Wie meinst du das?“
„Die Signale kannst du nur empfangen, wenn du vollkommen entspannt bist. Und das bist du nie.“ „Warum hat es dennoch geklappt?“
„Es gibt einen Augenblick, kurz vor dem Einschlafen, in dem man alles loslassen muss, um in den Schlaf eintauchen zu können. Das ist der Augenblick der totalen Entspannung. In diesem Bruchteil der Sekunde bist von allem befreit, das dich hindert, andere Dimensionen wahrzunehmen. Deine Herkunft, Bildung und dein Weltbild stehen dir nicht im Wege, dein Geist ist offen. Diesen Augenblick habe ich genutzt.“
Plötzlich heulte irgendwo eine Sirene. Ein Hund bellte. Die Regenbogenbrücke löste sich sofort im Nebel auf. Ich lag auf dem Boden, mein ganzer Körper tat weh und ich fror fürchterlich. Lennon stand immer noch neben mir, sah mich besorgt an und bellte ganz laut und ohne Unterbruch.
„Lennon, du bist ein guter Hund!“, sagte ich, als er eine Atempause machte und ich herbeieilende Schritte hörte. „Ich glaube, aus dir wird ein guter Rettungshund.“ Er wedelte, leckte meine Tränen, so wie Ringo es immer getan hatte.
Und zum ersten Mal liess ich es zu und lachte, wie ich es auch damals getan hatte.